Inklusion: Besser als die Wirklichkeit?

Eine Studie der Berufsgenossenschaft für Gesundheit und Wohlfahrtspflege hat ermittelt, dass Menschen mit Behinderung in Medien mit "falschen Sprachbildern" dargestellt werden.

Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen haben es in der Arbeitswelt nicht einfach. Die Berufsgenossenschaft für Gesundheit und Wohlfahrtspflege hat die Wahrnehmung dieser Gruppe in den Medien untersucht. Das Ergebnis fällt wenig positiv aus.

In einigen Wochen gehen alle Deutsche wählen und legen fest, wer sie im Bundestag vertreten darf. Alle Deutsche? Nicht wirklich. Leitmedien wie tagesschau.de oder DER Spiegel machten aufmerksam, dass viele Menschen mit Behinderung kein Wahlrecht haben. Wenn ihnen ein Betreuer in allen Angelegenheiten zugewiesen wird, dann werden sie für die Bundestagswahl ausgeschlossen. Entsprechend groß ist die Kritik, beispielsweise von der Bundesbeauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderung.

In den Medien und in der Arbeitswelt sieht es nicht besser aus. Von Stereotypen und falschen Sprachbilder spricht die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW). Sie gab eine Studie in Auftrag, in dem die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung in den Medien untersucht wurde.

Unter der Wahrnehmungsschwelle der Leitmedien

Obwohl fast zehn Millionen Menschen mit Behinderungen in Deutschland leben, davon 7,6 Millionen mit schweren Beeinträchtigungen, spielen diese in deutschen Leitmedien kaum eine Rolle. Die Auswertung von mehr als 1,2 Millionen Beiträgen aus TV- und Radio-Nachrichten, Wochenmedien und ausgewählten Tageszeitungen im Zeitraum 2012 bis 2016 durch das Schweizer Medienforschungsinstitut Media Tenor International zeigt: Es müsste mindestens zehnmal mehr über Menschen mit schweren Behinderungen berichtet werden, damit ein relevanter Anteil der Bevölkerung wüsste, wie es tatsächlich um ihre Lage bestellt ist.

Arbeitsleben kaum im Fokus

Wenn in den vergangenen Jahren über Menschen mit Behinderungen berichtet wurde, ging es am ehesten um Behindertenpolitik, Sport oder Gesundheit. Auch die Frage der Inklusion in Schulen wurde deutlich häufiger thematisiert als die Teilhabe am Berufsleben. Dabei sind hierzulande über eine Million Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen auf dem Arbeitsmarkt tätig.

Insgesamt leben in Deutschland etwa drei Millionen Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen im erwerbsfähigen Alter: Sie stellen damit eine ebenso große Gruppe dar wie alle Beschäftigten im Einzelhandel – und eine dreimal so große wie die der Bankmitarbeiterinnen und -mitarbeiter.

Während die Medien im Allgemeinen häufig Unternehmen kritisieren, zeichneten die analysierten Beiträge im Zusammenhang mit der beruflichen Teilhabe fast durchgängig ein positives Bild von ihnen. Das gleiche gilt für die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. In der Realität stellt sich die Arbeitsmarktlage für Menschen mit schweren Behinderungen dagegen deutlich schwieriger dar.

Fachleute empfehlen mehr Berichterstattung und Transparenz

So wurde exklusiv für die Studie ermittelt, wie es um die Pflichtbeschäftigungsquote bei den größten börsennotierten Firmen, den DAX30-Unternehmen, bestellt ist: Bislang erreicht weniger als die Hälfte von ihnen die Pflichtbeschäftigungsquote. Gleichzeitig sind Menschen mit schweren Behinderungen immer noch doppelt so häufig arbeitslos wie andere.

Ferner ergab die Analyse, dass die Mediendarstellung von Menschen mit Behinderungen selbst teilweise noch stark von der Selbstwahrnehmung dieser Gruppe abweicht. So entstanden in der Medienberichterstattung häufig Bilder von „Heldinnen“ oder „Helden“, die ihr Schicksal „trotz Behinderung“ meistern – oder von „Opfern“, die vermeintlich das Mitleid der Gesellschaft benötigen.

Damit einher gingen unpassende und falsche Sprachbilder. Beispielsweise findet sich oftmals die Formulierung „an den Rollstuhl gefesselt“: Allerdings ist der Rollstuhl für viele Menschen mit Behinderungen keine Fessel, sondern ein wichtiges Hilfsmittel zur Teilhabe.

Professionellere Berichterstattung notwendig

Angesichts der Studienergebnisse empfiehlt das Medienforschungsteam eine häufigere und professionellere Berichterstattung – sowie seitens der Unternehmen transparentere Auskunft, wo sie stehen, was gut gelingt, was weniger gut gelingt und wo weitere Unterstützung nötig ist. Transparenz über die tatsächlichen Anforderungen zur Einrichtung von Stellen für Menschen mit Beeinträchtigungen könne unter anderem die Sorge von Betrieben vor Hemmnissen in der Umsetzung lindern und ihnen helfen, gezielt Menschen mit Beeinträchtigungen zu rekrutieren.

Das gelte auch für den inzwischen in vielen Bereichen spürbaren Mangel an Fachkräften in Deutschland. Ebenso seien die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Integrations- oder Inklusionsbetriebe stärker gefragt, ihre besondere Expertise bei Menschen mit schweren Beeinträchtigungen transparent zu machen.

BGW plädiert für differenziertes und kraftvolles Bild in den Medien

Auch die BGW möchte mit der Studie die berufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen voranbringen. „Gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe auch am Arbeitsleben ist ein Menschenrecht“, erklärt ihr Hauptgeschäftsführer Prof. Dr. Stephan Brandenburg. „Wir unterstützen unsere Mitgliedsbetriebe mit einem breiten Angebot, damit sie Inklusion in all ihren Aspekten langfristig bei sich verankern können.

Zur Erreichung echter Teilhabe liegt noch ein gutes Stück Weg vor uns – ein differenziertes und kraftvolles Bild in den Medien würde helfen, Verbesserungen voranzubringen“, so Brandenburg. „Vielfalt sollte auch im Arbeitsleben als Bereicherung begriffen werden und Fachkräfte die ihnen gebührende Anerkennung erhalten.“ (bgw/betriebundarzt)

[su_box title=“BUCH ZUR STUDIE UND ANSPRECHPARTNER“ box_color=“#b7cd41″] Die detaillierten Ergebnisse der Medienstudie sind als Buch veröffentlicht: Matthias Vollbracht, „Besser als die Wirklichkeit? Berufliche Inklusion im Spiegel der Medien“, ISBN 978-3-906501-24-6. Die BGW gibt die Publikation, solange der Vorrat reicht, kostenfrei ab. Bestellanfragen nimmt sie unter der E-Mail-Adresse medienstudie@bgw-online.de entgegen.  

Torsten Beckel und Sandra Bieler, Kommunikation Pappelallee 33/35/37, 22089 Hamburg Telefon (040) 202 07-27 14, Telefax (040) 202 07-27 96 E-Mail: presse@bgw-online.de[/su_box]

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